Keine Zeit für Sinnkrisen
Kirill Richter & Richter Trio

Kirill Richter & Richter Trio
Donnerstag, 6. Februar 2025 | 19:30 | Elbphilharmonie, Kleiner SaalProgramm
Kirill Richter (*1989)
Trio Nr. 1 d-Moll
Michigan 7
Mechanisms
Walzer Nr. 4
aus: Towards the Beloved City
Trio Nr. 2 d-Moll
Jumpman OST
In Time We Trust
I Close My Eyes OST
Musica Incognita
In Memoriam
Zeitgeist
Chronos
Come to Me Not in The Snow White
North Brother Island
Zugaben:
Kirill Richter, Walzer Nr. 7, aus: Towards the Beloved City
Kirill Richter, Where Angels Fear to Tread
Besetzung
Alena Zinovieva Violine
Avgust Krepak Violoncello
Kirill Richter Klavier
Immer offen für Neues
„Ich bin nicht mehr ganz der junge Mann.“ „Ach, Kirill“, möchte man ihm antworten. Ja, auf den offiziellen Künstlerporträts sieht er tatsächlich aus wie ein knapp Zwanzigjähriger, und davon ist er mit 35 schon ein bisschen entfernt. Aber von sich zu behaupten, „nicht mehr jung“ zu sein? Vielleicht, wenn man bereits so viel gesehen und erlebt hat wie Kirill Richter.
Glücklicherweise steht hinter dieser Aussage nicht die Angst vor einer Alterskrise oder gar die Vorahnung der berüchtigten Midlife Crisis, sondern eher das genaue Gegenteil: Kirill Richter empfindet sich auf eine gewisse Art als alterslos, weil er keine Zeit für Sinnkrisen hat. Er findet so viele Dinge spannend – Natur, Kultur, Politik, Wissenschaft, dazu ist er noch ein echter Perfektionist –, dass er immer beschäftigt ist: mit Recherche, mit dem Aneignen neuer Techniken und Fähigkeiten, mit dem Erleben des Außen und der anschließenden Verarbeitung im Innen.
Musik ist eine Geschichte, genau wie Literatur oder Poesie.
Das erklärt vielleicht auch, warum Kirill Richter nach einem kurzen Exkurs am Konservatorium – man muss sich das wie einen Schüler-Workshop in Klavier und Komposition vorstellen – zuerst am traditionell so bezeichneten MEPhI, der heutigen National Research Nuclear University in Moskau studierte. Allerdings im Bereich Grafikdesign. Kirill lernte in seinem Studium, U-Boote zu zeichnen. Danach hielt er sich als freiberuflicher Grafikdesigner mehr schlecht als recht über Wasser, gestaltete Logos und Websites. Ein Kurs im Fach Mode an der British Higher School of Art and Design, ebenfalls in Moskau, sollte sein Leben wieder in spannendere Bahnen lenken – was leider nicht so richtig klappte.
Also versuchte er es mit Musik, ohne fundierte Ausbildung, ohne echte Vorbilder in der Familie oder dem Umfeld. Ein bisschen Herumgeklimpere auf einem von den Nachbarn geliehenen Keyboard, die Faszination des alten, verstimmten Klaviers seiner Großmutter und der Workshop am Konservatorium waren ausreichend Rückenwind für Kirill Richter. Und es funktionierte. Noch viel besser: Er konnte seine Leidenschaft für Design und Mode mit einfließen lassen. Davon zeugt vor allem sein Instagram-Auftritt. Kirill Richter liebt das Schöne, das Ästhetische, mag es aber auch, wenn etwas auf den zweiten Blick irritiert oder ungewöhnlich ist.
Eigene Räume
Seine Konzertsettings haben sich in den letzten Jahren entsprechend gewandelt. Vom schlichten Saal ohne Schmuck hin zu großformatigen Leinwänden bzw. Displays, auf denen starke Bilder die Musik unterstützen. Inzwischen öffnet Kirill Richter für fast jedes seiner Programme einen eigenen audiovisuellen Raum. Und meistens sitzt er auch nicht mehr allein am Flügel auf der Bühne, sondern gemeinsam mit der Geigerin Alena Zinovieva und dem Cellisten Avgust Krepak. Sie sind zu seiner musikalischen Familie geworden, sie verstehen seine Sprache, verstehen, was Kirill Richter mit Musik ausdrücken möchte.
2016 war das Jahr von Richters musikalischem Durchbruch, er bekam einen Plattenvertrag angeboten und wurde zu Konzerten auch außerhalb Russlands eingeladen. Die Feuilletons stürzten sich auf ihn, den extrem gutaussehenden jungen Russen, der aus dem Klavier das herausholte, was das große Publikum verzauberte und in den Bann zog. Und sie hatten schnell das passende Label zur Hand: Neoklassik. Ludovico Einaudi, Nils Frahm, Max Richter, Ólafur Arnalds oder Hauschka machen seit den frühen 2000er-Jahren diese Art von Musik, die eine für viele längst überfällige Brücke zwischen Klassik und Popmusik schlägt. Florian Christl, Hania Rani und Kirill Richter gehören zur jüngeren Generation der Neoklassiker:innen.
Klare Ausdrucksweisen
Aber so ganz einverstanden mit dieser Kategorie ist Richter nicht. „Ich will mich nicht auf einen bestimmten Still festlegen; das ist ein Problem, das alle Komponisten heute haben. Meine Musik gehört nicht zum Neoklassizismus und hat nichts mit Strawinsky oder Prokofjew zu tun. Sie passt auch nicht in den reinen Minimalismus. Sie wäre vielleicht eher der ‚neuen Einfachheit‘ zuzuordnen.“ Ein Kritiker bezeichnete sie mal als „minimalistische expressive Musik“ – damit wäre Kirill Richter prinzipiell einverstanden. „Aber Minimalismus nicht im Sinne der Verwendung bestimmter Techniken, sondern im Sinne einer klaren Ausdrucksweise. Musik ist eine Geschichte, genau wie Literatur oder Poesie, aber es ist eine Geschichte, die in musikalische Sprache übersetzt wird.“
In passender Kulisse
Vor etwas über zwei Jahren hat Kirill Richter seiner Heimat vorerst den Rücken zugewandt. Er will nicht in einem Land leben, das von einem Kriegstreiber regiert wird. Zuerst hat er in der Schweiz Unterschlupf gefunden, seit fast einem Jahr lebt er nun in Paris. Der Stadt der Mode und auch der Neoklassizisten. Und damit eine passende Kulisse für einen minimalistisch-expressiven Neoklassiker, oder?