Mother, shelter me
Das Geheimnis der Isabelle Lewis

Sigurðsson, Meirhaeghe, Klinck
Freitag, 30. Mai 2025 | 19:30 | Elbphilharmonie, Kleiner SaalProgramm
ISABELLE LEWIS
75 Minuten ohne Pause
Zugaben:
Valgeir Sigurðsson/Benjamin Abel Meirhaeghe/Elisabeth Klinck, Cute Song (Improvisation)
Isabelle Lewis, Drama
Besetzung
Valgeir Sigurðsson Klavier & Electronics
Benjamin Abel Meirhaeghe Countertenor
Elisabeth Klinck Violine
Wer ist eigentlich Isabelle Lewis? Warum hat sie sich den Mund so rot übermalt, die Wimpern schwarz verdichtet wie eine Puppe, Russian Volume Silk Lash Extensions, nach drei Wochen wieder auffüllen, dünne Halbmonde als Brauen tätowiert, dunkler Chrom-Lidschatten. Es sieht spektakulär aus, aber auch spektakulär falsch. Etwas stimmt nicht mit dieser Isabelle Lewis. Woher kommt sie auf einmal, wo war sie vorher, wie lange wird sie bleiben?
Kompromisslos
Sie wird sich dazu nicht äußern. Denn sie äußert sich zu gar nix. Sie macht ihr Ding, kümmert sich nicht drum, was die anderen dazu sagen oder ob sie erfolgreich ist mit dem, was sie tut. Man könnte sagen, sie ist rücksichtslos. Und das ist gar nicht abwertend gemeint, eher bewundernd. In der Kunst sollte man schließlich so wenig Kompromisse wie möglich eingehen. Und das tut Isabelle Lewis.
Sie tut das, weil sie von drei sehr unterschiedlichen Personen erdacht wurde. Es scheint, als hätten die ihre besten Eigenschaften und Fähigkeiten zusammengeworfen, um Isabelle Lewis zu erschaffen. Produzent Valgeir Sigurðsson, Sänger Benjamin Abel Meirhaeghe und Geigerin Elisabeth Klinck stecken dabei noch viel mehr rein, als ihre Berufsbezeichnungen vermuten lassen.
Hi everyone, nice to meet you.
Die Brüsselerin Elisabeth Klinck entlockt nicht nur ihrem Instrument (bzw. eigentlich allen klassischen Saiteninstrumenten) singende, flüsternde oder pfeifende Töne, sondern beherrscht auch Live-Elektronik und komponiert. Benjamin Abel Meirhaeghe, ebenfalls aus Belgien, ist ein autodidaktischer Countertenor, interdisziplinärer Theaterregisseur und Performer. Und Valgir Sigurðsson kennt man natürlich durch seine Arbeit für Björk, aber auch die vielen erfolgreichen Projekte, die er für sein vor fast 20 Jahren gegründetes Label Bedroom Community realisiert hat.
Rokoko und Neonlicht
Isabelle Lewis brachte ihr Debütalbum vergangenen Herbst raus. Da war sie einfach. Da war Greetings. Vergangenheit und Gegenwart, Menschliches und Mechanisches, wie ein Rokoko-Schatz unter kaltem Neonlicht oder ein plötzlich von der KI gesteuerter Automat aus dem 18. Jahrhundert.
Zu Beginn ist es intim, ganz nah, eine Sprachnachricht von einer Freundin. Die folgenden Tracks stehen für sich, tickende Beats, darüber ein Popsong, der erst aufs zweite Hören eine Sogwirkung entfaltet. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Texte wie aus der Zeit gefallen wirken. Manchmal zitiert Benjamin Abel Meirhaeghe den Opernkomponisten Henry Purcell wörtlich oder er reimt ganz fein säuberlich Couplets, die so auch in Vaudevilles oder Singspielen des 18. Jahrhunderts vorkommen könnten. In Moonshell werden die Worte durch seine besondere Betonung zu Fragmenten einer uralten, verloren geglaubten Klage, die heute in ihrer Archaik niemand mehr verstehen kann.
Monumente der Vergangenheit und Zukunft
Dieses Stück kommt eher gegen Ende von Greetings, das Album hat hier sein Pop-Gewand längst abgelegt und offenbart viel mehr sinfonische und erhabene Züge. So viel Tiefe, dass man auf einmal denkt, die Welt mit ihren ganzen irrationalen Momenten glatt zu verstehen, wenn man dieser Musik lauscht. Ätherische Streichertremoli sind die Vergangenheit, die für die bebenden Bass des elektronischen Heute noch maßgeblich bestimmend ist. Wie ein altes römisches Viadukt ist Isabelle Lewis Zeugin und Wegweiserin. Die steinernen Bögen bedeuteten damals schon Fortschritt und sind bis heute wichtig und in Benutzung.
Die falschen Wimpern und der grelle Lippenstift sind die Maskerade von Isabelle Lewis für die verzerrte Zeit, in der wir leben. Sie war schon immer da. Und sie wird auch nicht verschwinden. So viel ist sicher.